Auf unsere Initiative werden die Missstände in der Fleischindustrie in dieser Woche gleich in drei Bundestagsausschüssen behandelt. Hier sollen die zuständigen Minister*nnen Heil (SPD), Klöckner (CDU) und Spahn (CDU) Rede und Antwort stehen. Ministerin Klöckner, von der bisher wenig zum Thema zu hören war, haben einige Kolleg*innen und ich am Wochenende zusätzlich in einem offenen Brief aufgefordert, Stellung zu den katastrophalen Zuständen in der Fleischindustrie zu nehmen und für Abhilfe zu sorgen.
Hier der offene Brief an die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner (CDU) im Wortlaut:
Sehr geehrte Frau Bundesministerin,
die Corona Krise hat wie ein Brennglas die skandalösen Arbeits- und Hygienebedingungen in der Schlachtbranche offengelegt. Am 26.06.2020 fand im BMEL ein sogenannter „Fleischgipfel“ statt. Die Ergebnisse dieses Gespräches waren vor allem schöne Worte. Aber diese müssen jetzt auch mit Substanz unterfüttert werden. Zu viele Fragen bleiben offen. Die systembedingten Missstände in der Fleischerzeugung müssen abgestellt werden. Ein grundlegendes Umsteuern in der gesamten Kette ist jetzt nötig. Als Bundesministerin liegt die Verantwortung für die Art und Weise, wie Tiere gehalten und Fleisch erzeugt wird, bei Ihnen. Dieser Verantwortung müssen Sie jetzt gerecht werden und die Missstände beenden.
Seit Beginn der Corona-Pandemie steht die Fleischindustrie im besonderen Fokus des Infektionsgeschehens. Jetzt zeigt sich: Die großen Schlachtbetriebe in Deutschland haben sich zum Corona Hot Spot entwickelt. Der aktuelle Corona-Ausbruch im Betrieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrück hat dabei eine bis dahin noch nicht dagewesene Dimension erreicht. Mit aktuell über 1550 (Stand 23.06.) nachweislich Infizierten im Unternehmen wurde bei fast 25 % der Beschäftigten das Corona-Virus nachgewiesen.
Der Standort im Kreis Gütersloh gilt mit seinen mehr als 6.000 Beschäftigten als größter Schweine-Schlachthof Europas. In Akkordarbeit wurden hier in 2019 rund 16,7 Millionen Schweine getötet. Das entspricht einer täglichen Schlachtmenge von 30.000 Schweinen und damit einer Menge Lebendgewicht von 3,5 Millionen Kilo. Das hier zerlegte Fleisch macht etwa ein Achtel des deutschen Marktes aus. Über 30% des Fleisches wird nach China exportiert. Weitere Betriebe der Fleischbranche in Birkenfeld, Bad Bramstedt, Pforzheim, Coesfeld, Oer-Erkenschwick oder Dissen waren von Corona Ausbrüchen betroffen.
Wohn- und Lebensbedingungen der Werkvertragsbeschäftigten, aber auch das aktuelle System der Schlachtung mit seinen Hunderten von Arbeitenden am Zerlegeband sowie die Hochkonzentrierung der Unternehmen der Schlachtbranche führen zu einem hohen systembedingten Risiko für eine Betroffenheit im Pandemiefall und eine dramatischen Auswirkung im Infektionsfall.
Es ist also ein Systemversagen, mit dem wir konfrontiert sind. Für dieses Systemversagen bezahlen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit ihrer Gesundheit und die Bevölkerung in den betroffenen Kreisen mit verschärften Maßnahmen und erheblichen Einschränkungen wie erneuten Kontaktverboten und Schul- und Kitaschließungen.
Werden die massiven Corona-Ausbrüche Konsequenzen seitens des BMEL für die zukünftige Organisation und Arbeitsweise in der Schlachtbranche und dem System der Fleischerzeugung generell nach sich ziehen?
Wir möchten Sie bitten, zu den folgenden Problembereichen aus Ihrer Perspektive als Bundesministerin Stellung zu beziehen und darzustellen, mit welchen Maßnahmen Sie kurzfristig Abhilfe schaffen wollen und welche Umsteuerungen mittelfristig in welchem Zeitrahmen geplant sind:
Kann das BMEL die Sicherstellung der jetzt dringend notwendigen medizinischen Versorgung und Betreuung, die Versorgung mit Lebensmitteln der betroffenen Arbeitenden in den Schlachtunternehmen garantieren und wenn ja, mit welchen Maßnahmen unterstützt das BMEL dies? Kann das BMEL garantieren, dass die betroffenen Menschen umfassend über die Quarantänebedingungen informiert werden und die Fortführung der Lohnzahlungen im Krankheits- und Quarantänefall sichergestellt ist und wie unterstützt das BMEL in dieser Hinsicht die betroffenen Beschäftigten? Wie wird die Versorgung der weiteren Haushaltsmitglieder gesichert und erhalten diese im Quarantänefall Lohnersatzleistungen?
Wird das BMEL die von der Bundesregierung angekündigte vereinbarte Abschaffung von Werkverträgen im Kernbereich der Tätigkeit (Schlachten und Zerlegen) unterstützen und vorantreiben und sich für die Übernahme aller Beschäftigten direkt bei den Schlachthöfen sowie eine angemessene Entlohnung einsetzen? Was wird das BMEL tun, damit die arbeitsrechtlichen Standards in Zukunft eingehalten werden?
Wird sich das BMEL für die Verbesserung der vielfach unzumutbaren Wohnverhältnisse in den oft überbelegten Quartieren einsetzen und wenn ja, mit welchen Maßnahmen? Mit welchen Kontrollmaßnahmen soll aus der Sicht des BMEL die Einhaltung von Standards bei den Unterkünften und Infektionsschutzmaßnahmen besser als bisher sichergestellt werden?
Wird das BMEL aufgrund der letzten dramatischen Entwicklungen, u.a. im Schlachtbetrieb Tönnies und der neuen Erkenntnislage entsprechende „pandemiefeste“ Standards zur Vermeidung von Ansteckung entwickeln?
Wird sich das BMEL für die verpflichtende Entwicklung, Einführung und Umsetzung eines Managementkonzeptes für Hygiene-, Infektionsschutz- und Arbeitsschutzmaßnahmen sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitssituation einsetzen, die der neuen Erkenntnislage entsprechen?
Wird das BMEL konkrete Vorgaben für Maßnahmen zur Einhaltung des Infektionsschutzes einführen bzw. darauf hinwirken, dass das BMAS dies tut, wie z.B. technische Maßnahmen zur Absenkung der Luftfeuchtigkeit und Aufbereitung und Filterung der Luft in Arbeits- und Zerlegeräumen, Reduzierung der Bandgeschwindigkeit, Abschaffung der Dauerakkordbelastung, Vergrößerung der Arbeitsabstände, Begrenzung der Personenanzahl in den Arbeitsräumen, verpflichtende Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung.
Wie bewertet das BMEL das System der Eigenkontrolle der Firma Tönnies hinsichtlich der Kontrolle des Infektionsgeschehens und wird es sich für die Einführung unabhängiger, bundesweit einheitlicher strafbewährter Kontrollstandards einsetzen? Wie soll nach Kenntnis des BMEL in Zukunft eine effektive Kontrolle von arbeitsrechtlichen Standards, der Umsetzung der Sozialversicherungspflicht und des Tarifrechts sowie von Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen besser umgesetzt werden?
Wie beurteilt das BMEL die eine mögliche Zusammenführung aller Kontrollen in eine Arbeitsinspektion und wird das Ministerium dieses Vorhaben unterstützen?
Welche Konsequenzen zieht das BMEL aus dem Systemcharakter der zutage getretenen dramatischen Zustände hinsichtlich der Veränderung des Gesamtsystems der Fleischerzeugung und der Verbesserung der Tierhaltung insgesamt? Wird sich das BMEL für eine Stärkung der regionalen Landwirtschaft und Umstellung auf eine nachhaltige, tierwohlgerechte Tierhaltung durch eine wirkliche Kehrtwende in der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik, eine Flächenbindung der Tierhaltung und eine massive Stärkung einer regional ausgerichteten bäuerlichen Agrarstruktur einsetzen? Wie soll die Konzentration in der Schlachtbranche aufgehoben werden und dezentrale Verarbeitungsstrukturen aus der Perspektive des BMEL erreicht werden?
Wird sich das BMEL für eine bessere Förderung von dezentralen Alternativen zur hochkonzentrierten Schlachtbranche, z.B. für Modelle der Weideschlachtung, der Hofschlachtung, der Förderung landwirtschaftlichen Direktverarbeitung und Direktvermarktung und direkter Erzeuger-Verbraucher Kooperationen oder mobiler und dezentraler Schlachthöfe einsetzen? Wenn ja, wie wird das BMEL in Zukunft diese und andere dezentrale Ansätze besser unterstützen und fördern?
Wir hoffen auf eine baldige Antwort und einen Austausch zu diesen Fragen.
Mit freundlichen Grüßen
Britta Haßelmann, Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Anton Hofreiter, Maria Klein-Schmeink, Renate Künast, Beate Müller-Gemmeke
Homepage der Fraktion: Fleischindustrie in die Verantwortung nehmen