Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen es im letzten Jahrzehnt nur moderate Reallohnsteigerungen gab. Vom Blog „die Freiheitsliebe“ wurde ich zur Entwicklung von ArbeiterInnenrechten, der Reallohnentwicklung und der Situation von ArbeitnehmerInnen in kirchlichen Einrichtungen interviewt.
Die Freiheitsliebe: In den letzten Jahren waren die Reallohnsteigerung in wenigen anderen europäischen Ländern so gering wie in Deutschland, welche Ursachen hat diese Entwicklung?
Beate Müller-Gemmeke: In Deutschland setzte man lange Zeit auf eine zurückhaltende Lohnsteigerung mit dem Ziel die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Eine Ursache war auch die ehemals hohe Zahl an Erwerbslosen. Und insbesondere in der Finanz- und Wirtschaftskrise bestand der Konsens, gemeinsam die Krise zu meistern. Das alles hat zu dieser geringen Lohnsteigerung geführt.
Die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften wurde aber aus meiner Sicht ein Stück weit missbraucht. Denn nach der Wirtschaftskrise sind insbesondere prekäre Jobs entstanden – befristet, in der Leiharbeit oder per Werkvertrag. Heute setzen die Gewerkschaften wieder vermehrt auf höhere Löhne und das zu Recht.
Die Freiheitsliebe: In Ländern, in denen die MitarbeiterInnen stärker von ihrem Streikrecht gebrauch machten, waren die Reallohnsteigerungen teilweise deutlich höher, könnten Streiks auch in Deutschland die Reallöhne steigern?
Beate Müller-Gemmeke: Selbstverständlich könnte eine größere Streikbereitschaft auch in Deutschland zu höheren Löhnen führen. Notwendig dafür ist aber eine ausreichend gute Organisationsfähigkeit in der jeweiligen Branche.
In Deutschland profitieren aber mittlerweile viele Beschäftigte nicht mehr von erkämpften höheren Tariflöhnen. Der Grund dafür ist die steigende Tarifflucht. Deshalb bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die Politik handeln muss. Wir brauchen gesetzliche Regelungen, um das Tarifvertragssystem zu stärken und Tarifflucht zu verhindern. So wollen wir Grünen beispielsweise die Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung erleichtern, damit Tariflöhne wieder für alle Beschäftigten einer Branche gelten.
Die Freiheitsliebe: In welchen Situationen lohnt sich ein Streik für die Beschäftigten?
Beate Müller-Gemmeke: Wann sich Streik lohnt, können eigentlich nur die Gewerkschaften selbst entscheiden. Sie kennen die Situation und die Streikbereitschaft der Beschäftigten. Meiner Meinung nach lohnt sich Streik immer, wenn die Lohnsteigerung in den letzten Jahren die Inflationsrate nicht ausgleichen konnte. Streik lohnt sich aber auch um Billiglohnmodelle zu verhindern oder die Übernahme von Auszubildenden zu verbessern.
Die Freiheitsliebe: MitarbeiterInnen von kirchlichen Unternehmen haben deutlich schlechtere Voraussetzungen für Streiks, welche Ursachen hat das?
Beate Müller-Gemmeke: Die Ursache liegt im Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, das im Grundgesetz verankert ist. Aufgrund dieses Priviligegs dürfen die Kirchen die Rahmenbedingungen des Verhandlungssystems selbst gestalten. Sie unterliegen nicht dem Tarifvertrags-, dem Betriebsverfassungsgesetz und dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz. Sie können den so genannten „Dritten Weg“ gehen.
Die Freiheitsliebe: Wäre es nicht an der Zeit, dass die Beschäftigten von kirchlichen Betrieben die gleichen (ArbeitnehmerInnen-)Recht erhalten?
Beate Müller-Gemmeke: Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen ist gerade dabei, sich bezüglich des kirchlichen Arbeitsrechts zu positionieren. Ich persönlich bin der Auffassung, dass alle Beschäftigten gleich behandelt werden sollen. Alle brauchen auch den gleichen Schutz.
Die Freiheitsliebe: Wie könnte eine solche Veränderungen der Rechte umgesetzt werden?
Beate Müller-Gemmeke: Ein Urteil des Bundesarbeitsgericht hat im letzten Jahr das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen bestätigt, auch wenn es bei der Frage nach dem Streikrecht Bedingungen gestellt hat. Aus diesem Grund sehe ich derzeit keine Möglichkeit für gesetzliche Änderungen. Dennoch setze ich darauf, dass vermehrt Tarifverträge in kirchlichen Einrichtungen verhandelt werden. Diese Tarifverträge könnten dann allgemeinverbindlich erklärt werden, denn der Wettbewerb bei den sozialen Diensten ist mittlerweile enorm. Nur gemeinsam können die Arbeitsbedingungen verbessert werden.
Die Freiheitsliebe: Welche Maßnahmen würden die Grünen, falls sie in die nächste Regierung kommen, umsetzen, die die Position der ArbeitnehmerInnen verbessert und ihre Rechte stärkt?
Beate Müller-Gemmeke: Wir sind der Meinung, dass der Arbeitsmarkt zutiefst gespalten ist. Wir sehen die Fehlentwicklungen, die auch durch rot-grün entstanden sind und stehen deshalb in der Verantwortung. Wir brauchen wieder soziale Leitplanken auf dem Arbeitsmarkt. Notwendig ist ein breites Bündel an Maßnahmen, das wir umsetzen wollen. Wir wollen einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von mindestens 8,50 Euro und bessere Rahmenbedingungen für mehr branchenspezifische Mindestlöhne und allgemeinverbindlich erklärte Tariflöhne. In der Leiharbeit soll „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ab dem ersten Tag gelten und ebenso ein Flexibilitätsbonus. Den Missbrauch von Werkverträgen wollen wir eindämmen und insbesondere die sachgrundlose Befristung abschaffen. All dies ist notwendig, denn jegliche Arbeit hat ihren Wert. Die Beschäftigten haben faire Löhne und soziale Sicherheit verdient.
Die Freiheitsliebe: Abschließend die letzte Frage, Hartz IV hat bei vielen Menschen in Deutschland dazu geführt, dass sie bereit sind für niedrigere Löhne zu arbeiten und schlechtere Bedingungen auf sich zu nehmen, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Ist die Idee Hartz IV gescheitert oder kann durch Reformen eine Verbesserung der Situation geschaffen werden, die den Menschen weniger Druck aussetzt?
Beate Müller-Gemmeke: Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II war zwar richtig. Wie kritisieren aber heftig, dass das „Fordern“ im Mittelpunkt steht. Erwerbslose dürfen nicht gezwungen werden, unter schlechten Arbeitsbedingungen und unwürdigen Löhnen zu arbeiten. Deshalb haben wir ein Sanktionsmoratorium beschlossen. Der Regelsatz muss erhöht werden, denn alle haben das Recht auf ein sozio-kulturelles Existenzminimum. Vor allem brauchen wir ausreichend Mittel. Schwarz-Gelb hat aber gerade in diesem Bereich – in der aktiven Arbeitsmarktpolitik – die Mittel stark gekürzt. Die Folgen zeigen sich heute, denn mittlerweile verfestigt sich Langzeiterwerbslosigkeit, weil sinnvolle Angebote, effektive Unterstützung und ein sozialer Arbeitsmarkt fehlen. Das war ein fataler und unverantwortlicher Fehler. Erwerbslose brauchen Chancen und Perspektiven. Politik darf niemanden vergessen und alleine lassen.
Die Freiheitsliebe: Wir danken für das Interview.