Seit über einem Jahr kündigt die Regierung an, den Missbrauch in der Leiharbeit verhindern zu wollen. Heute endlich wurde der Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht. Meiner Meinung nach wird der Missbrauch und vor allem die Substitution von Stammbelegschaften nicht verhindert. Die wesentlichen notwendigen Verbesserungen fehlen, wie beispielsweise der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ sowie mehr Mitbestimmung für Betriebsräte.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke vom Bündnis 90/Die Grünen.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute wird also endlich der Gesetzentwurf der Regierung in den Bundestag eingebracht. Seit über einem Jahr warten wir schon darauf. Ministerin von der Leyen hat bereits zwei Anläufe gestartet; die wurden aber immer vom Koalitionspartner, der FDP, gestoppt. Die Koalitionsfraktionen sind bei wichtigen sozialpolitischen Themen einfach nicht handlungsfähig. Das ist die übliche schwarz-gelbe Chaospolitik; aber das kennen wir schon aus dem Vermittlungsausschuss.
(Hubertus Heil (Peine) (SPD): Das stimmt! Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Da haben die Grünen aber keine gute Rolle gespielt!)
Das, was jetzt vorliegt, kann ich nur als Minimalvariante bezeichnen. Die wichtigsten Punkte fehlen, etwa das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ und der Mindestlohn. Mit diesem Gesetz bleiben die Leiharbeitskräfte die Verlierer. Auch der Staat verliert, und zwar Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen. Dafür werden die Ausgaben für das aufstockende Arbeitslosengeld II steigen, und das nur, weil sich die schwarz-gelbe Koalition lieber um Hoteliers und minimale Entlastungen, beispielsweise beim Arbeitnehmerpauschalbetrag, kümmert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Angelika Krüger-Leißner (SPD) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): (FDP): Ihnen fällt auch nichts Neues mehr ein, oder?)
Ich hoffe nur, dass der Gesetzentwurf im Laufe des Verfahrens um den Mindestlohn ergänzt wird. Ich hoffe übrigens auch, dass die Arbeitsbedingungen normiert werden; hier geht es auch um Arbeitszeiten. Das wäre wenigstens ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es ist mir aber immer noch unverständlich, warum sich die FDP so hartnäckig gegen einen Mindestlohn gewehrt hat. Der Mindestlohn in der Leiharbeit ist mit Blick auf die ab Mai gewährte Arbeitnehmerfreizügigkeit unerlässlich.
(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Es gibt ihn bereits! 98 Prozent der Zeitarbeitsverhältnisse haben einen tariflichen Mindestlohn!)
Darüber sind sich mittlerweile alle Branchenverbände inklusive BDA einig; nur die FDP hat es einfach nicht kapiert.
(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wir haben doch zugestimmt!)
Mit dem Gesetzentwurf muss auch die EU-Leiharbeitsrichtlinie umgesetzt werden; die Bundesregierung ist verpflichtet, sie bis zum Ende des Jahres umzusetzen. Ich finde – das wird Sie kaum überraschen -, dass der geforderte Gesamtschutz der Leiharbeitskräfte nicht gewährleistet ist. Laut Richtlinie müssen die Leiharbeitskräfte zumindest die Arbeitsbedingungen von festangestellten Beschäftigten erhalten. Sie werden dieser Vorgabe mit Ihrem Gesetzentwurf aber nicht im Geringsten gerecht.
Auch die hochgelobte sogenannte Schlecker-Klausel ist nicht das Papier wert, auf dem sie steht. Es gibt genügend Möglichkeiten, diese Regelung zu umgehen. Beispielsweise können entlassene Beschäftigte sechs Monate lang geparkt und danach als Leiharbeitskräfte am gleichen Arbeitsplatz eingesetzt werden; es können aber auch gleich andere Leiharbeitskräfte angefordert werden. Damit bleibt vom Gesetzentwurf bis auf kleine Detailregelungen nicht mehr viel übrig. Die Substitution von Stammbelegschaften ist weiterhin möglich; aber das wollten Sie ja auch nicht verhindern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nicht nur die im Entwurf enthaltenen Regelungen sind problematisch. Entscheidend ist, dass die wirklich wichtigen Verbesserungen fehlen, beispielsweise die Einführung von Equal Pay und die Wiedereinführung des Synchronisationsverbots, aber auch mehr Rechte für Betriebsräte. Das führt dazu, dass die Leiharbeit immer salonfähiger wird und Stammbelegschaften entweder aktiv oder schleichend ersetzt werden. Aus regulären Beschäftigungsverhältnissen werden also Leiharbeitsverhältnisse. Ich frage mich, wohin das führen soll. Frau Connemann von der CDU/CSU, aber auch Herr Kolb von der FDP finden das natürlich in Ordnung; denn ihrer Meinung nach gibt es in der Leiharbeit reguläre Beschäftigungsverhältnisse. Das stimmt aber nicht.
(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wir haben das Arbeitgebermodell!)
Ich möchte einmal ausführen, was ich unter regulärer Arbeit verstehe und warum ich die Leiharbeit als prekär bezeichne.
(Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Da bin ich mal gespannt!)
Reguläre Beschäftigungsverhältnisse sind unbefristet. Die Beschäftigten werden entsprechend ihrer Qualifikation oder der Art ihrer Tätigkeit bezahlt, und zwar nach dem gleichen Tarifsystem wie alle anderen auch. Im Kreis der Kolleginnen und Kollegen haben sie ein stabiles soziales Umfeld; man kennt sich, sie erhalten Anerkennung und Wertschätzung. Vor allen Dingen gibt es klare Rahmenbedingungen, das heißt, die Beschäftigten haben die Möglichkeit, ihr Leben wirklich zu planen.
Jobs in der Leiharbeit sind aber in der Regel befristet, und zwar nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz, und zwar häufig nur für die Dauer des Einsatzes, und können jederzeit vorzeitig gekündigt werden. Wenn der Einsatz zu Ende ist, bleibt nur noch der Gang in die Arbeitslosigkeit. Das nenne ich prekär. Leiharbeitskräfte verdienen 30 bis 50 Prozent weniger als regulär Beschäftigte, und zwar unabhängig von ihrer Qualifikation. Von dem Lohn können sie nicht leben, und darüber hinaus werden sie noch wie Beschäftigte zweiter Klasse behandelt. Auch das bezeichne ich als prekär.
Leiharbeitskräfte werden im Betrieb häufig als Konkurrenz angesehen. Sie stehen unter einem deutlich höheren Leistungsdruck; denn sie wollen regulär angestellt werden. Sie müssen sich immer wieder an neue Tätigkeiten gewöhnen; die Umgebung wechselt und natürlich auch die Menschen, die sie um sich herum haben. Anerkennung, Wertschätzung Fehlanzeige. Leiharbeitskräfte leben in Unsicherheit. Eine Lebens- und Familienplanung ist nicht möglich. Auch das bezeichne ich als prekär.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Agnes Alpers (DIE LINKE))
Alles zusammen zeigt eindrücklich, mit welchen Lebensbedingungen die Leiharbeitskräfte tagtäglich zu kämpfen haben. Hören Sie also endlich auf damit, immer wieder zu behaupten, die Leiharbeit sei eine reguläre und normale Beschäftigungsform. Die Realität sieht anders aus. Die Leiharbeit ist und bleibt unsicher und unfair.
Ich frage die Regierungsfraktionen nochmals: Wo soll das hinführen? In manchen Industriebranchen ist die Leiharbeit und im Dienstleistungsbereich wird die Leiharbeit zur Normalität. Jede fünfte Bäckerei, jeder vierte Kfz-Betrieb und jedes siebte Bauunternehmen setzt auf Leiharbeit.
(Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Wo haben Sie das her? Aus der DGB-Studie, die sich 100 Prozent verrechnet hat?)
Im Gesundheitsbereich nimmt die Leiharbeit dramatisch zu. In Banken, Versicherungen, Kitas, Schulen und sogar in den Jobcentern werden Leiharbeitskräfte eingesetzt, wie ich vor kurzem gehört habe und was mich wirklich schockiert hat. Es geht schon lange nicht mehr um Flexibilität und um das Abfedern von Auftragsspitzen. Es geht darum, eine zweite Niedriglohnlinie einzuführen. Es geht um Profit, und es geht um den Wettbewerb um die niedrigsten Löhne. Diese Tendenz wird mit dem vorgelegten Gesetzentwurf nicht gestoppt.
Ich wiederhole: Sozial ist nicht, was Arbeit schafft, sondern sozial ist nur, was gute Arbeit schafft.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Agnes Alpers (DIE LINKE))
Eine verantwortliche Arbeitsmarktpolitik muss die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen verbessern und Zukunftschancen eröffnen. Um dem gerecht zu werden, müssen Sie Ihren Gesetzentwurf gewaltig überarbeiten.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Jutta Krellmann (DIE LINKE))
Am Ende der Debatte sprach Frau Connemann (CDU). Dabei führte sie Fakten aus, die ich so nicht stehen lassen konnte. Ich habe also eine Zwischenfrage gestellt. Die Antwort zeigt deutlich – keine Frage wurde beantwortet. Vielmehr hat sie mir unterstellt, ich hätte sie falsch zitiert. Das Gegenteil stimmt aber, das zeigt das Protokoll. Ich bleibe dabei, solche Aussagen auch in der Antwort sind unsäglich. Hier folgt das Protokoll in Auszügen:
[…]
Es wäre aber vor allem ein besonders schwerer Schlag für die Schwächsten am Arbeitsmarkt. Denn die Zeitarbeit gibt gerade denen eine Chance, die vorher keine hatten: Geringqualifizierte, Menschen ohne Schulbildung oder ohne Ausbildung.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 60 Prozent haben eine Berufsausbildung!)
100 000 ehemalige Hartz-IV-Empfänger haben so allein im letzten Jahr Arbeit gefunden. Zwei Drittel der neu eingestellten Zeitarbeiter waren vorher arbeitslos oder noch nie beschäftigt. Sie haben jetzt Arbeit, und zwar, Frau Müller-Gemmeke, reguläre Arbeit.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, sie haben prekäre Arbeit!)
[…]
In der Zeitarbeit haben überdurchschnittlich viele Ungelernte bzw. Hilfsarbeiter einen neuen Job gefunden.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Immer mehr Qualifizierte!)
Es braucht keine Weisheit, um zu wissen, dass Hilfsarbeiter nun einmal weniger Geld verdienen als ein Facharbeiter.
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Alles Hilfsarbeiter? Das ist doch Quatsch!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin Connemann, würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Müller-Gemmeke zulassen?
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Ja, sehr gerne.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön.
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Kollegin Connemann, ich habe eine Nachfrage. Sie reden die ganze Zeit davon, dass die Leiharbeitskräfte unqualifiziert sind, zum Teil nie gearbeitet haben und endlich eine Chance brauchen. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass über 60 Prozent der Leiharbeitskräfte eine abgeschlossene Berufsausbildung haben?
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)
Ich finde es schlimm, dass man bei 1 Million Menschen, die in der Leiharbeit arbeiten müssen, weil es zurzeit keine anderen Jobs mehr gibt, so tut, als wenn sie alle Probleme, Hemmnisse und keine Qualifikation haben und vielleicht auch noch faul sind. Ich finde es langsam unerträglich, dass so über diese Menschen geredet wird.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)
Das war der erste Punkt.
Ich muss noch einen zweiten Punkt ansprechen. Man tut immer so, als wenn es diese 1 Million Arbeitsplätze in der Leiharbeit nicht gäbe, wenn sie nicht so attraktiv wäre, wie es jetzt der Fall ist. Dazu frage ich Sie: Ist tatsächlich die ganze Branche ein Sozialunternehmen, das nur deshalb Leiharbeitskräfte einstellt, um gute Bedingungen zu bieten? Oder geht es um Auftragslagen, sodass die Jobs auch ohne Leiharbeit besetzt werden müssten?
Gitta Connemann (CDU/CSU): Frau Kollegin Müller-Gemmeke, Sie haben eben davon gesprochen, was Sie unerträglich finden. Ich finde es unerträglich, von Ihnen ganz bewusst falsch zitiert zu werden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Sie später nachlesen!)
Denn ich habe mit keinem Wort meiner Rede – Sie können das im Plenarprotokoll nachlesen –
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In den Fußnoten!)
in irgendeinem Zusammenhang gesagt, Zeitarbeitnehmer seien faul.
Gerade das finde ich unglaublich. Denn Zeitarbeitnehmer sind diejenigen, die eine Chance, die ihnen geboten wurde, ergreifen. Diffamieren Sie nicht immer diese Personen, die ihre Chance ergreifen!
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielleicht hören Sie einfach zu!
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir sind hier nicht auf einer Cocktailparty!)
Wenn Sie nicht so schreien würden, dann könnte ich die Frage endlich beantworten.
(Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])
– Sie dürfen nicht reden. Vielleicht sollten Sie mit Ihrer Fraktion darüber reden.
Das Zweite ist, dass Sie behaupten, ich hätte gesagt, 60 Prozent hätten keinen Abschluss.
(Widerspruch der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Das ist vollkommen unzutreffend. Ich habe Ihnen gesagt, dass 100 000 Zeitarbeitnehmer im letzten Jahr einen Job gefunden haben, die zuvor im Hartz-IV-Bezug gewesen sind; das war meine Formulierung.
(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das sagt aber nichts über die Qualifikation der Menschen aus!)
Bei diesen 100 000 handelt es sich um Langzeitarbeitslose oder solche, die zuvor noch nie eine Beschäftigung hatten. Ich bitte Sie, auch Folgendes zur Kenntnis zu nehmen: Zeitarbeit baut Brücken in den ersten Arbeitsmarkt.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 7 Prozent! – Weitere Zurufe von der LINKEN)
Sie haben als Letztes gesagt, die Zeitarbeit sei eine soziale Branche. Das ist sie sicherlich nicht. Die Zeitarbeit ist eine Wirtschaftsbranche – der Kollege Schiewerling hat darauf zutreffend hingewiesen – wie viele andere,
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Nein, sie verteilt Menschen!)
eine Wirtschaftsbranche, die zum Beispiel an Tarifverträgen teilnimmt, eine Wirtschaftsbranche, die Menschen einstellt und manchmal auch Menschen entlässt. Sie befristet allerdings Arbeitsverträge nicht annähernd in dem Umfang, wie Sie es behaupten. Ein Drittel der Arbeitsverträge ist befristet, wie in allen anderen Wirtschaftsbereichen.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe etwas anderes gefragt!)
Die Zeitarbeit ist nicht besser als andere Wirtschaftsbereiche, aber sie ist auch nicht schlechter.
Das, was Sie machen, ist eine dauerhafte Diffamierungskampagne auf Kosten von hart wirtschaftenden Betrieben und ihren Mitarbeitern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist offensichtlich Ihr Stil, den ich persönlich wirklich abstoßend finde; das sei an dieser Stelle auch gesagt.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben meine Frage nicht beantwortet!)