Inhalt

17.12.2010

Rede: Missbrauch in der Leiharbeit verhindern

Seit einem Jahr kündigt die Bundesregierung lautstark an, dass sie mit einem Gesetzentwurf den Missbrauch in der Leiharbeit verhindern wollen. Aber noch immer streiten sich die Regierungsfraktionen über einen Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche. Lediglich die „Schlecker“-Klausel im Kabinettsbeschluss ist ein kleines Schrittchen in die richtige Richtung. Ein bisschen Missbrauchsbekämpfung ist zu wenig – es besteht grundsätzlicher Korrekturbedarf. Wir wollen Equal Pay und einen Mindestlohn als Unterkante und für verleihfreie Zeiten.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke vom Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich diskutieren wir heute über den Antrag der SPD; aber es ist bekannt, dass die Opposition bei dem Thema Leiharbeit sehr nah beisammen ist und weitgehend an einem Strang zieht. Im Mittelpunkt der Forderungen steht: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Das fordern auch wir Grünen, und zwar ohne Wenn und Aber.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie von den Koalitionsfraktionen streiten aber noch immer über eine Gesetzesvorlage, die Sie schon vor einem Jahr lautstark angekündigt haben. Im ersten Entwurf gab es noch eine Lohnuntergrenze, im zweiten Entwurf war sie schon wieder draußen. In dieser Woche hat das Kabinett den dritten Entwurf beschlossen, aber weder eine Lohnuntergrenze noch Equal Pay sind geplant. Die Regierung hat sich lediglich auf eine dürftige Regelung zum Drehtüreffekt und auf einige Anpassungen zur europäischen Leiharbeitsrichtlinie einigen können. Ministerin von der Leyen wird also weiterhin für einen Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche streiten müssen.

Eine kurze Zeit lang – ich glaube, es waren nur wenige Stunden; Kollege Kolb, ich spreche Sie jetzt direkt an – haben Sie signalisiert, dass die FDP einem Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche nicht im Weg stehen würde.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): ?Mindestlohn? haben wir bestimmt nicht gesagt!)

Dann mussten Sie sehr schnell wieder zurückrudern. Auf Ihrer Homepage steht jetzt wieder – ich glaube, Kollege Vogel sagte es -, dass die FDP gegen einen Mindestlohn ist. Beide Kollegen, Kolb und Vogel, wollen aber anscheinend das Equal Pay nach einer gewissen Frist – was immer das heißen mag. Das ist wieder einmal schwarz-gelbe Chaospolitik. Sie streiten, sie schachern wie auf einem Basar, und zwar zulasten der Beschäftigten.

(Pascal Kober (FDP): Wir streiten für die besten Lösungen für die Menschen!)

Eigentlich wäre es ganz einfach; denn wir brauchen beides, und zwar einen Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche als Untergrenze und für verleihfreie Zeiten sowie Equal Pay beim Einsatz im Betrieb.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Seit einem Jahr kündigen Sie an, dass Sie gegen den Missbrauch in der Leiharbeit vorgehen wollen.

(Andrea Nahles (SPD): Allerdings!)

Sie haben aber nichts getan. Die Konsequenz ist: Nach der Krise kommt jetzt im Aufschwung der neue Boom in der Leiharbeit. Mittlerweile hat die Beschäftigung in der Leiharbeit fast die Millionengrenze erreicht. Laut IG Metall bewegt sich die Leiharbeitsquote in den Betrieben der Metall- und Elektroindustrie auf sehr hohem Niveau. Das bedeutet, dass in einer Schlüsselbranche der deutschen Wirtschaft – machen Sie sich das schlichtweg einmal deutlich – immer weniger sozialversicherungspflichtige Beschäftigte arbeiten. Eine Vielzahl von regulären Beschäftigungsverhältnissen ist durch Leiharbeit ersetzt worden. Diese Entwicklung zeigt: Es entsteht eine Zweiklassengesellschaft auf dem Arbeitsmarkt. Ich finde, dieser Trend muss endlich gestoppt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, auf diesem Ohr sind Sie aber taub. Gleichzeitig sagen Sie ja immer, wir Grünen seien die Dagegen-Partei.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sind Sie ja auch!)

Die Realität zeigt aber, dass Sie die Neinsager sind. Wir sind für Equal Pay, die CDU/CSU ist aber dagegen. Wir sind für einen Mindestlohn, die FDP ist aber dagegen. Wir wollen die Leiharbeit auf ein sozialverträgliches Maß begrenzen, Sie sind aber dagegen. Nicht bei den Grünen sitzen die Neinsager, sondern in den Reihen der Regierungsfraktionen

.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unbeirrt halten Sie daran fest, dass die Leiharbeit ein wichtiges Instrument für die Wirtschaft ist. Herr Kolb, Sie haben es gerade noch einmal gesagt. Aber was heißt das eigentlich? Ich habe mal ein bisschen gegoogelt und bin bei der Zeitarbeitsfirma ProFutura fündig geworden. Dort wird der Vorteil der Leiharbeit sehr deutlich und sehr klar beschrieben – ich zitiere-:

– Sie befreien sich von vielen Arbeitgeberpflichten und -risiken

– Sie vermeiden konsequent Trennungsprobleme (Arbeitsgerichtsprozesse, Abfindungszahlungen)

– Sie erreichen eine Kostensenkung und wandeln Fixkosten in variable Kosten

– Sie verschaffen sich durch optimale Personalbesetzung einen Wettbewerbsvorteil, der zu Ihrem Unternehmenserfolg beiträgt

Wenn ich das lese, läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Wo leben wir eigentlich, wenn Menschen ausschließlich als variable Kosten und Wettbewerbsvorteil bezeichnet werden? Wollen wir wirklich den Status als Exportweltmeister mit Dumpinglöhnen erkaufen? Was ist eigentlich noch der Wert der Arbeit bei uns hier in Deutschland?

Für eine Sekretärin in einem Klinikum bedeutet Leiharbeit beispielsweise ganz konkret: Sie bekommt für die gleiche Arbeit circa 500 Euro brutto weniger im Monat, sie hat sechs Tage weniger Urlaub, bekommt kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld und keine betriebliche Altersvorsorge. Wenn alle anderen Heiligabend und Silvester einen halben Tag frei haben, muss sie arbeiten.

Das ist kein Einzelfall. Die Leiharbeitskräfte sind Beschäftigte zweiter Klasse, die nicht nur schlechter verdienen, sondern auch weniger Rechte haben. Sie haben deutlich weniger Planungssicherheit; denn für den Entleihbetrieb gilt der Kündigungsschutz nicht. Vor allem sind sie aber zum Spielball der Unternehmen geworden. Diese können durch die Leiharbeit einfach ihr betriebswirtschaftliches Risiko auf die Beschäftigen übertragen. Schwächelt die Konjunktur, sind die Leiharbeitskräfte die ersten, die hinausgeworfen werden und auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen sind. Diese Form der Beschäftigung ist meiner Meinung nach nicht mit einer sozialen Marktwirtschaft zu vereinbaren. Sozial ist nicht, was Arbeit schafft, sondern sozial ist, was gute Arbeit schafft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Kritikwürdig finde ich auch, dass die Bundesagentur für Arbeit immer mehr in Leiharbeit vermittelt, und dies, obwohl die meisten Leiharbeitskräfte – dabei geht es um Singlehaushalte und nicht um Familien -, zusätzlich ergänzendes Arbeitslosengeld II erhalten. Hier liegt die Leiharbeitsbranche weit vor allen anderen Branchen. Dennoch wirbt die Bundesagentur für Arbeit auf ihrer Homepage dafür – ich zitiere nochmals -:

Wenn Ihnen der Einsatz bei verschiedenen Arbeitgebern und Branchen gefällt, können Sie die Zeitarbeit zu Ihrem Dauerjob machen.

Ich finde das zynisch. Die BA sollte ihren Job endlich ernst nehmen und die Menschen in reguläre Beschäftigung vermitteln.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir Grünen sind kritisch, aber auch selbstkritisch. Ich habe hier schon einmal gesagt, dass die Reform der Leiharbeit unter Rot-Grün ein Fehler war. Fehlentwicklungen können und müssen aber korrigiert werden. Die Verantwortung dafür liegt jetzt leider nicht bei uns, sondern bei Ihnen, bei den Regierungsfraktionen und der Bundesregierung. Hören Sie von den Regierungsfraktionen endlich auf, immer nur zu sagen, dass die Entwicklung durch Rot-Grün entstanden ist.

(Paul Lehrieder (CDU/CSU): Aber es stimmt! Das entspricht doch der historischen Wahrheit!)

Lenken Sie damit nicht immer von Ihrer eigenen Verantwortung, von der Verantwortung der Regierungsfraktionen ab.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auch die Argumentation, die ich immer wieder höre, dass 1 Million Leiharbeitskräfte lediglich 3 Prozent der Beschäftigten entsprechen, kann ich nicht gelten lassen. Entscheidend sind die Dynamik in der Branche und die Folgen auf dem Arbeitsmarkt, vor allem mit Blick auf die Freizügigkeit. Der Schutz der arbeitenden Menschen und die soziale Gerechtigkeit gehen durch die Leiharbeit immer mehr verloren. Die Wohlstandsversprechen der sozialen Wirtschaft, dass in Krisenzeiten alle gleichermaßen abgesichert sind und am Wachstum gerecht beteiligt werden, werden in der Realität immer seltener eingelöst. Fairness und soziale Verantwortung sehen für mich anders aus.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, nehmen Sie die Fakten endlich ernst. Begreifen Sie endlich, dass es nicht nur um ein bisschen Missbrauchsbekämpfung geht, sondern um viel mehr. Es geht um einen grundsätzlichen Korrekturbedarf im Bereich der Leiharbeit. Kommen Sie zu Potte, und machen Sie endlich den Weg frei für reguläre Beschäftigung und faire Löhne.

Das ist nicht nur der Wunsch der Opposition, sondern auch der Wunsch der Bevölkerung. Umfragen haben ergeben, dass 60 Prozent der Deutschen die Leiharbeit ablehnen und 87 Prozent die ungleiche Bezahlung für ungerecht halten. Gleiches Geld für gleiche Arbeit – das entspricht dem Gerechtigkeitsgefühl der Menschen. Dies sollte auch ein Zeichen für die Regierung sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn die Meinung der Bevölkerung für Sie nicht zählt, dann nehmen Sie doch wenigstens erfahrene Politiker aus den Reihen der CDU ernst, beispielsweise Norbert Blüm, der Schirmherr der Initiative „Gleiche Arbeit – Gleiches Geld“ ist. Seinen Einsatz begründet er damit, dass das deutsche Wirtschaftswunder durch Innovation und Qualität entstanden ist und nicht durch Beschäftigung bei weniger Rechten und zu Dumpinglöhnen. Recht hat er. Unsere Gesellschaft ist nur tragfähig, wenn möglichst viele Menschen einen Arbeitsplatz haben, bei dem sie so viel verdienen, dass sie davon leben können – ohne staatliche Unterstützung -, und bei dem sie die gleichen Rechte und die gleichen Sicherheiten haben wie alle anderen auch. Alles andere ist unsozial und entspricht nicht der Würde des Menschen.

Zum Schluss möchte ich ganz kurz Norbert Blüm zitieren: „Made in Germany ist nicht der Begriff für billig!“

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)