Mit einer Solidaritätskundgebung für die Menschen aus Afghanistan setzen Saleem Jalalzai und das Reutlinger Asylcafé am Freitag auf dem Reutlinger Marktplatz ein Zeichen. Ich konnte aufgrund anderer Termine leider nicht persönlich vor Ort sein, unterstütze die Initiative von Saleem Jalalzai aber voll und ganz und habe deshalb ein Grußwort verlesen lassen. Saalem kam 2011 nach Deutschland. Die Taliban hatten seinen Vater ermordet. Nun, nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul, ist er in großer Sorge um die Familienangehörigen, die noch im Land leben. Und er ruft uns auf, unbürokratisch zu helfen.
Liebe Mitstreiter:innen, sehr geehrte Damen und Herren,
die Situation in Afghanistan treibt mich – wie alle hier – extrem um. Und doch kann ich leider heute bei dieser Kundgebung nicht dabei sein. Ich habe schon lange bei einer Podiumsveranstaltung zugesagt, die genau zur gleichen Zeit stattfindet. Von daher müssen meine Gedanken und Forderungen heute vorgelesen werden.
Die Bilder aus Afghanistan sind nicht auszuhalten. Viele Menschen wurden zurückgelassen. Sie schafften es nicht bis zum Flughafen. Sie bekamen nicht rechtzeitig ein Visum. Sie leben jetzt in größter Gefahr. Täglich erreichen mich und meine Kolleg:innen Hilferufe von verzweifelten Menschen, die nicht wissen, was aus ihren Angehörigen wird. Sie bitten um Unterstützung.
Die Menschen, die von der Bundesregierung im Stich gelassen wurden, sind Ortskräften und ihre Angehörigen, Frauen- und Menschenrechtsverteidiger:innen, Journalist:innen, Kulturschaffende, Mitarbeiter:innen von NGOs. Es sind Menschen, bei denen es vor kurz noch hieß: Die holen wir jetzt raus. Es geht aber auch um die Familienangehörigen, von hier lebenden Menschen, bei denen der Familiennachzug noch nicht funktioniert hat, oder gar nicht vorgesehen war. Sie machen sich Sorgen um ihre alten Eltern, Geschwister oder Tanten und Onkeln.
Sie alle wurden zurückgelassen, weil Außenminister Maas, alle Warnungen ignoriert hat. Schon Monate vor dem Abzug der Truppen gab es Warnungen, dass die Taliban in kürzester Zeit Kabul einnehmen werden. Das hätten die Geheimdienste vorhersehen können. Die Bundesregierung hat mahnende Stimmen sträflich ignoriert und damit kostbare Zeit zur Rettung von Menschenleben verloren. Warnungen kamen aus der Bundeswehr, der Zivilgesellschaft, zahlreichen Medien und auch, über Fraktionsgrenzen hinweg, aus dem Parlament.
Noch wenige Tage vor dem Fall Kabuls erklärte Innenminister Seehofer in einem Brief an die EU – das kann nachgelesen werden, dass weiter nach Afghanistan abgeschoben werden sollte. Und der SPD-Bundeskanzlerkandidat und Vizekanzler Scholz sagte in einem Interview, man solle an den Abschiebungen weiter festhalten.
Wir Grünen haben bereits im Juni mit einem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, die Ortskräfte und ihre Familien schleunigst zu evakuieren. Doch unser Antrag wurde von SPD und Union abgelehnt. Bei so einer Verantwortungslosigkeit fehlen mir die Worte. Da schäme ich mich für diese Bundesregierung. Denn wir sind es den Menschen vor Ort schuldig, die unter widrigsten Umständen in den letzten 20 Jahren und zum Teil unter Lebensgefahr alles dafür getan haben, um das Land und seine Infrastruktur aufzubauen. Die Große Koalition hat dramatisch versagt. Es ist ein Armutszeugnis für die deutsche Außenpolitik, dass wir es nicht geschafft haben, all die Menschen, denen Deutschland Schutz versprochen hat, aus Afghanistan zu evakuieren.
Grünes Fazit und Forderungen:
Die Bundesregierung hat monatelang gezögert, afghanische Ortskräfte und bedrohte Menschen rechtzeitig aus Afghanistan auszufliegen. Sie ist dafür verantwortlich, dass die Evakuierungen unter schwierigsten Bedingungen stattfinden mussten. So viele Menschen sind weiter an Leib und Leben gefährdet. Viele Menschen, denen wir früher hätten helfen müssen, wurden im Stich gelassen. Bis heute ist ungeklärt, wie das Auswärtige Amt die Listen für den Flughafen Kabul erstellt hat. Welche Priorisierungen wurden vorgenommen und welche Kriterien gibt es für zu evakuierende Personen. Wegen dieser Intransparenz hatten tausende von Menschen Hoffnungen, die dann nicht erfüllt wurden. Dieses Desaster muss umfassend in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufgearbeitet werden, auch damit sich in Zukunft ein solches Regierungsversagen nicht wiederholt.
Damit wichtige Akten und Daten, die für die Aufklärung unverzichtbar sind, bis dahin nicht ,verloren‘ gehen, brauchen wir umgehend ein Löschmoratorium, das der Bundestag beschließen muss. CDU, CSU und SPD tun so, als bestünde dazu keine Notwendigkeit. Dabei waren wir auch bei anderen wichtigen Fragen damit konfrontiert, dass wichtige Daten verschwunden sind, die für Untersuchungsausschüsse wichtig waren. Wer Aufklärung will, darf sich dem nicht verschließen.
Wir Grünen Bundestagsabgeordneten haben die Kontakt- und Aufenthaltsdaten vieler schutzbedürftiger Personen direkt an das Auswärtige Amt weitergeleitet, mit der dringenden Bitte, diese Personen auf die Liste der prioritär zu Evakuierenden zu setzen. Das Auswärtige Amt und die Bundesregierung sind dieser außenpolitischen Verantwortung auf dramatische Weise nicht nachgekommen. Wir fordern daher: Die Bundesregierung muss endlich Perspektiven für diese Menschen schaffen.
Gefährdete Menschen, die es schaffen, aus Afghanistan zu flüchten, müssen einen schnellen und unbürokratischen Zugang zu deutschen Botschaften erhalten und ein Visa bekommen. Wir brauchen eine konzertierte Aktion der Bundesländer zur Aufnahme von Flüchtlingskontingenten aus Afghanistan und eine enge Koordination zwischen Deutschland und bereitwilligen EU-Staaten, den USA und Kanada. Darüber hinaus muss die Bundesregierung einen echten und andauernden Abschiebestopp nach Afghanistan verhängen, und die Menschen müssen eine sichere Bleibeperspektive in unserem Land erhalten.
Im Sinne einer vorausschauenden Politik muss die Bundesregierung den Dialog mit Nachbarstaaten über die humanitären Herausforderungen intensivieren – unabhängig von politischen oder ideologischen Differenzen. Im Fall der Fälle muss Deutschland schnelle humanitäre Nothilfe leisten.
Wichtig ist jetzt aber auch zivilgesellschaftliches Engagement. Wir alle müssen genau hinschauen und die Menschen hier in Deutschland sensibilisieren für die Situation in Afghanistan. Vor allem geht es auch um schnelle und unbürokratische Hilfe, um die Menschen in Afghanistan mit dem Nötigsten zu versorgen. Und am besten können das Personen, die direkte enge Kontakte zu Zivilpersonen und Organisationen in Afghanistan haben, die vor Ort schnelle Hilfe leisten und direkt zu den Menschen gehen können.
Deshalb werbe ich für die Crowdfunding-Kampagne von Saleem Jalalzai. Ich hoffe, dass sich viele daran beteiligen. Lassen Sie uns zusammen den Menschen vor Ort unbürokratisch helfen.
Mit solidarischen Grüßen
Beate Müller-Gemmeke